Bei Wir FÜR Vechta befassen wir uns normalerweise mit herkömmlicher Kommunalpolitik, aber in der letzten Zeit diskutieren wir oft über die gegenwärtige Flüchtlingskrise, so auch am 15.Oktober, als sich unser Ratsvertreter Frank Hölzen, der Vereinsvorsitzende Carsten Bösing und Horst Bojes, Mitglied des erweiterten Vorstands, trafen. Es wird schnell deutlich, dass auch der Landkreis und die Stadt Vechta sehr gefordert sind und noch mehr sein werden. Die Meinungen gehen ziemlich auseinander und spiegeln somit auch die öffentliche Debatte zu diesem Thema wider.
Bösing: Frank, du bist gegen die Flüchtlingspolitik von Frau Merkel. Was hast du für ein Problem damit?
Hölzen: Also, ich denke mir, dass es auf der einen Seite moralisch-menschlich geboten war, die Grenze für den großen Flüchtlingsstrom aus Ungarn Anfang September zu öffnen, weil die da in einer Sackgassensituation steckten. Auf der anderen Seite hatte diese Maßnahme eine gewaltige Sogwirkung bis in die Flüchtlingslager des Nahen Ostens hinein. Somit kommen viel zu viele Leute auf einmal. Dagegen können wir nicht an organisieren. Und wir haben keine Kontrolle mehr über den Zustrom.
Bojes: Ich bin der Meinung, wenn wir schon eher damit angefangen hätten, alle Wirtschaftsflüchtlinge abzuschieben, dann wäre es gar nicht dazu gekommen, dass unsere Kapazitäten überfordert werden. Außerdem: Im Landkreis Vechta leben zur Zeit 1000 abgelehnte Asylbewerber, und das seit Jahren!
Bösing: Deine Argumentation, Frank, ist doch nicht schlüssig: Du hast selbst gesagt, dass Merkel in der Ungarnkrise nicht anders hätte handeln können. Dann kannst du ihr das ja nicht zum Vorwurf machen. Im Übrigen: Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge machen gegenwärtig nur 8% der Flüchtlinge aus. Die allermeisten kommen aus Syrien, Afghanistan und Eritrea, wo im Moment Krieg bzw. Bürgerkrieg herrscht.
Hölzen: Nach der Rettung der Ungarn-Flüchtlinge hätte Merkel den Deckel drauf machen müssen. Jetzt schicken wir täglich Sonderzüge nach Österreich, um die Wartenden abzuholen. Was ist das denn für ein Signal? Ich gestehe dir zu, dass wir in einem moralischen Dilemma stecken mit den vielen Notleidenden. Aber die Politik hat nicht nur Verantwortung für Kriegsopfer aus Syrien, sondern auch für diejenigen, die in Deutschland von Armut und Wohnungsnot betroffen sind! Somit war es politisch ein Fehler. Außerdem hat sich die Bundesregierung nicht an geltendes EU-Recht gehalten, wie es sich im von Deutschland selbst initiierten Dublin-Abkommen widerspiegelt. Daher ist es von Frau Merkel auch verlogen, nun europäische Solidarität einzufordern.
Bojes: Was jetzt passiert, ist, dass die Rechten, die schon fast am Ende waren, wieder Zulauf bekommen, bis hin zu so abenteuerlichen Verschwörungstheorien von der angeblich geplanten Zerstörung Deutschlands durch IM Erika (=Merkel). Den Aufwind für die Rechten durch ihre Flüchtlingspolitik hätte die Kanzlerin vorhersehen müssen.
Bösing: Hat sie vermutlich auch! Und dennoch hat Merkel genau das getan, was geboten war, und tut das noch immer. Jedes Medikament hat Nebenwirkungen, trotzdem muss es verabreicht werden. Unvermeidliche Nebenwirkungen kann man dem Arzt bei einer Therapie nicht vorwerfen.
Hölzen: A propos Nebenwirkungen: Vor wenigen Tagen hat Sozialministerin Nahles gesagt, dass wir mit einer Million zusätzlicher Hartz-IV-Empfänger rechnen müssten und die Zahl der Analphabeten wird sich ebenfalls sprunghaft erhöhen. So betrachtet taugt wohl auch das Argument nur bedingt, dass wir wirtschaftlich von der Zuwanderung profitieren. Die gut Ausgebildeten sind schon länger da, aber die Menschen, die jetzt kommen, bringen häufig keine hohen Qualifikationen mehr mit. Übrigens: Sieben von zehn Flüchtlingen, die eine Ausbildung im Handwerk begonnen hatten, brachen diese wieder aufgrund diverser Schwierigkeiten vorzeitig ab.
Bojes: Und ich befürchte, dass die sozialen Verwerfungen zu einer erhöhten Kriminalitätsrate führen werden. Das wird unseren gesamten Alltag betreffen. Die jungen Männer aus den Krisengebieten sind mit Gewalt groß geworden, und wenn wir diese traumatisierten Menschen nicht schnellstens mit Arbeit versorgen können, mag ich mir nicht vorstellen, wie das auf Dauer für sie und uns enden soll.
Bösing: Vielleicht hast du Recht, Horst. Auch ich frage mich, ob die Konflikte in den Herkunftsländern, die dort zu Krieg und Terror geführt haben, hier nicht weiter wirken. Aber ich sehe nicht ein, dass unsere moralischen und politischen Entscheidungen nur von solchen Ängsten gesteuert werden. Ich schaue lieber auf die Chancen, die in der jetzigen Situation stecken: Überlegt doch mal, was für eine Zähigkeit und für ein Überlebenswillen in Menschen steckt, die es allen Widrigkeiten zum Trotz bis hierher geschafft haben. Das ist doch ein Potential, das wir für unsere Gesellschaft nutzen müssen!
Hölzen: Ich stimme dir zu, Carsten. Das Potential ist groß und wir müssten für die Menschen sofort Betätigungsfelder vorhalten. Haben wir aber nicht. Und dummerweise haben die Schlepper ihnen das Blaue vom Himmel versprochen. Die Enttäuschung über die Realität ist bei vielen dann umso heftiger.
Bojes: Die Erwartungen der Menschen werden immer größer: ‚Mutti‘ hat gesagt: „Ihr könnt alle kommen. Gut gemeint ist nicht gleich gut. Es kommt nicht viel dabei heraus, wenn man nur moralisch handeln will, aber den Verstand draußen lässt!
Hölzen: Ich habe noch eine weitere Sorge, Carsten. Der Konservatismus/Radikalismus innerhalb des Islam hat in den letzten Jahren stetig zugenommen und der Druck auf liberale Moslems, aber auch auf Christen wird dadurch immer stärker.
Bösing: Aber Frank, das kannst du doch nicht auf unsere Situation in Deutschland übertragen. Die Leute fliehen doch gerade vor Radikalität und sehnen sich danach, frei zu atmen.
Hölzen: Schön wär’s. Schau dir mal die vielen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge an. Die sind mutterseelenallein und fallen den Salafisten und anderen Heilspredigern in die Hände, weil sie dort eine Art Heimat wiederfinden. Außerdem könnten sich von Deutschland enttäuschte Flüchtlinge radikalisieren, wenn sie hier nicht das vorfinden, was sie sich erhofft hatten bzw. was ihnen versprochen wurde. Und: Der IS benutzt den Flüchtlingsstrom, um seine Kämpfer bei uns einzuschleusen. Dadurch, dass Flüchtlinge massenhaft reinkommen, ist das nicht zu kontrollieren.
Bojes: Dass wir Tausende nicht registrierter Flüchtlinge haben, ist ein dickes Problem. Und dann die ganzen ‚Trittbrettsyrer‘, die eine falsche Staatsangehörigkeiten angeben – hätte Merkel das alles nicht absehen können?
Bösing: Wer sich in Verschwörungstheorien ergeht, wird kein einziges der wirklichen Probleme lösen. Außerdem: Vergessen wir nicht, dass Hunderte junger Leute aus Deutschland in den Nahen Osten reisen, um ihr krankes Ego aufzupäppeln, indem sie die dortige Bevölkerung gemeinsam mit dem IS drangsalieren. Der Terrorexport von Deutschland nach Syrien ist momentan viel größer als in umgekehrter Richtung.
Hölzen: Noch etwas: Es hat Jahrhunderte gebraucht, bis unsere säkulare Gesellschaft sich von religiösen Fesseln befreit und die Kirche anerkannt hat, dass wir selbst bestimmen, was wir glauben und wie wir leben. Im Moment sehe ich aber, wie der Westen vor dem Druck islamischer Deutungshoheit einknickt und z.T. ein ungeheurer Aufwand betrieben wird, um religiösen Ideen irgendwelche Nischen zu reservieren. Um es mit dem Philosophen Karl Popper zu sagen: „Wenn wir die unbeschränkte Toleranz auf die Intoleranz ausdehnen,… werden die Toleranten vernichtet und die Toleranz mit ihnen.“
Bösing: Damit setzt du Islam mit Intoleranz gleich, und das ist eine falsche Verallgemeinerung. Darf ich mal daran erinnern, dass die ganze Radikalisierung, die sich im Nahen Osten breit macht, ein Ergebnis der unsäglichen Interventionspolitik der vergangenen 20 Jahre ist? Der Westen hat den islamistischen Terror und das politische Chaos im Nahen Osten zum großen Teil selbst verursacht. Dass wir den Menschen, die darunter leiden, jetzt helfen, ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit!
Bojes: Da hast du Recht…
Hölzen: Ich habe nicht gesagt, der Islam schlechthin sei intolerant, sondern der konservative Islam, und der ist leider auf dem Vormarsch. Es sollte aber auch nachdenklich stimmen, dass es in islamisch geprägten Ländern fast ausschließlich keine Demokratie gibt. Und noch etwas: Wir sehen die Flüchtlingsthematik durch die rosarote wirtschaftliche Brille: Die demographische Schieflage werde ausgeglichen; die Rentenlücke werde gestopft usw. usf. Schön und gut, wenn‘s denn so kommt. Aber was bedeutet es für unseren gesellschaftlichen Konsens, wenn die Säkularität in die Defensive gerät? Nicht nur Salafisten, sondern auch Rechtsextreme werden davon profitieren und dann nähern wir uns allmählich Weimarer Verhältnissen an!
Bösing: Da spricht der Geschichtslehrer …
Bojes: Also, wenn ich mir mal eine Mittelposition erlauben darf, würde ich sagen: Wir müssen den Notleidenden helfen, aber auch offensiv für unsere Werte und für unsere Freiheit eintreten. Aber auch hier bei uns und nicht anderswo in der Welt: Der Westen muss endlich kapieren, dass er seine über Jahrhunderte entwickelten und erkämpften Vorstellungen von Demokratie anderen Kulturen nicht einfach aufdrücken kann, schon gar nicht mit Gewalt. Und wenn wir denn so etwas wie Entwicklungshilfe leisten, dann bitte so gezielt, dass es den Notleidenden zugutekommt und nicht den Tyrannen und Ausbeutern. Können wir uns darauf einigen?
Hölzen: Überwiegend ja, aber unsere Aufnahmekapazität und – bereitschaft ist begrenzt.
Bösing: Wenn du’s so sagst, Horst, da kann ich mitgehen.
Ich bin einfach nur überrascht und dann begeistert, wie viele Menschen aller Altersgruppen und jeglicher Bildung sich für die Flüchtlinge engagieren. Ausser Frau Merkels „Wir schaffen das“ gab es m. E. keine direkte Aufforderung zur Hilfe und Mithilfe. Dass das dann anfangs in allen Bereichen „ungeordnet“ abging, ist mir sehr verständlich. Wobei wir natürlich einen sehr engen Begriff von Ordnung gewohnt sind. Doch das renkte sich irgendwann ein und bekommt nun Struktur in Deutschland – in der Tat: Wir schaffen das.
Und dann fällt auf, wie sehr wir im Grunde auf Katastrophen vorbereitet sind, was alles irgendwo gelagert ist, um in Notsituationen helfen zu können. Ich finde es gut und angemessen, dass die Lager mal lerer geräumt werden, um dann später mit frischer und neuerer Ware wieder gefüllt zu werden.
Doch vor allem bleibt mein Blick staunend bei den Menschen, die kommen und viele Kilometer und viele Strapazen hinter sich haben mit dem einen Ziel: Das Leben, ihr Leben zu retten. Und da sind wir für sie das fast einzige Hoffnungsland: GOTT SEI DANK:
Denn wer es wie „die Deutschen“ fertig gebracht hat 5 Millionen Menschen organisiert umzubringen, der muss um der Glaubwürdigkeit willen in der Lage sein, erst einmal einer Million Menschen das Leben zu schenken.
Und das scheint zu klappen. Ich bin stolz auf diese Menschen. Hier bin ich gerne zuhause.
Klaus Warning, Alfhausen
Mir gefällt eure Diskussion und die Diskussionsform sehr gut. Das ist genau was wir brauchen: eine offene und konstruktive Gesprächskultur, zuhören und respektvoll andere Standpunkte betrachten.
Zum Thema selbst: Für mich steht die Flüchtlings „krise“ im Kontext der Überlebensfrage der Menschheit: Teilen oder Töten (dazu gibt es ein interessantes kleines Büchlein von Hengsbach, in dem es vorrangig um wirtschaftliche Fragen geht).
Michael Bünte (früher terre des hommes, dann Help age, jetzt Journalist beim WDR) hat das heute in einem NOZ-Leserbrief auf den Punkt gebracht:
„Deutschland ist für Flüchtlinge aus aller Welt so attraktiv, weil wir so reich sind. Und wir sind so reich, weil die anderen arm bleiben.“
Wir brauchen eine Politik des Teilens. Das wird uns (auch) weh tun, aber allen gut tun, wenn es gelingt.
Leider sieht es so aus, als wenn das so ohne weiteres nicht einmal innerhalb von Europa klappt… Also dranbleiben und von unten nach oben arbeiten 🙂
Schöne Grüße aus Osnabrück, Elisabeth
Die unterschiedlichen Positionen spiegeln die Hauptargumente der derzeitigen Diskussion wieder. Der erarbeitete Kompromiss ist wahrscheinlich eine der wenigen Möglichkeiten auf diese Herausforderung vernünftig zu reagieren.
Was man darüber hinaus den Politikern (vor allem Frau Merkel und dem Innenminister) vorwerfen kann, ist, dass sie auf diese Entwicklung, die vorhersehbar war, nicht geplanter vorbereitet waren.
Die Darstellung der Diskussion auf der Homepage ist eine wichtige Form der demokratischen Auseinandersetzung mit politischen Themen und ist eine wohltuend andere Form als das frasendräschende Kundtun via Twitter oder Facebook.